DIE SUCHENDE
Von Alexandra Luna Vidal alias Magdalena Almado ©
Soeben ist die Sonne untergegangen.
Ich befinde mich an einem einsamen Strand auf La Palma, nichts als Meeresrauschen und sanfte Geräusche der Natur um mich, als ich auf den Ozean blickend eine junge Frau sehe, die mir zuwinkt – es wird vollkommen still in meinem Innersten. Langsam und dankbar erhebe ich mich und spaziere den Strand entlang …
Endlich wieder Stille – Stille in mir, Stille um mich.
Als ich einst aus der Unendlichkeit des Universums, aus dem Nichts, dem doch alles innewohnt und in dem immerwährende Stille herrscht, in die Endlichkeit des Menschendaseins eingetreten bin und damit eine Bewohnerin dieses Planeten wurde, begann bereits meine rastlose Suche nach Stille.
Mein erster Schrei war es gewesen, der diese zuvor wahrgenommene Stille durchbrach und meinen kleinen Körper erzittern ließ. Vorbei war damit die vollkommene Verbundenheit mit allem, was ist, ohne Begrenzungen, denen doch nur wir in unserer menschlichen Existenz unterliegen. Schon als Baby war ich ein übersensibles Wesen, das unmittelbar Unruhe empfand, wenn irgendwelche Lärmquellen es umgaben, und davon gab es allzu viele. Immer wieder versuchte ich verzweifelt, meinen kleinen Körper zu verlassen, um dem Lärm um mich zu entkommen, doch war ich gebunden an Raum und Zeit und an die Beschränkungen der menschlichen Existenz, die mich in diesem gefangen hielten.
Ich lebte in einer Großstadt und wuchs als Tochter eines großen Konzerninhabers auf, der mich von Anbeginn meines Lebens zu einer karriereorientierten und dem Materiellen verhaftenden Frau aufzog. Meine Mutter spielte bloß eine Nebenrolle in meinem Leben, da sie selbst in ihren schweren Depressionen und den verheimlichten Drogen- und Alkoholexzessen keinerlei Verantwortung für ein Kind tragen konnte. Sie lebte zurückgezogen in ihrem goldenen Elfenbeinturm, während mein Vater eine Geliebte nach der anderen ins Haus holte. Wo immer ich mich hinbewegte, gab es den Lärm des Verkehrs, laute Musik in den Geschäftslokalen und sogar in jedem Restaurant wurde Musik gespielt, oftmals so laut, dass man sich nicht einmal normal unterhalten konnte. Dabei bemerkte ich gar nicht, wie ich selbst eine Gefangene in diesem Sog der materiellen Welt geworden war. Doch gab es einen Teil in mir, der unantastbar war und sich erinnern konnte. Er zeigte sich in meinen Träumen, in denen ich immer wieder in ganz anderen Welten landete und oftmals mit Tränen in den Augen aus diesen erwachte – aus unberührten Naturlandschaften, in denen sonst nichts zu hören war als die Klänge der Natur, das feine Rauschen der Blätter, die vom Wind bewegt wurden, das leise Klingen sanfter Meereswellen oder auch das wilde Tosen der Brandung des Ozeans, die einzigartigen Gesänge von Delfinen und Walen, die mich aus den Tiefen des Meeres erreichten, das Zwitschern vieler verschiedener Vogelarten, das Plätschern eines Baches und so manch andere Geräusche, die nicht von Menschen erzeugt wurden, sondern alle aus der tiefen Stille des Seins selbst erwuchsen. Mit diesem Teil kam ich selten, aber doch in so manchen Momenten in Kontakt. Es war mir klar, dass irgendetwas an mir anders war als bei den meisten Menschen und dass sich dieses „Andere“ nach einem Leben sehnte, das sich von jenem unterschied, in dem ich lebte, gefangen in den Alltäglichkeiten einer guten Schulausbildung, eines mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossenen Studiums und einer Bilderbuchkarriere.
Ich war bereits mit 25 die Leiterin der Personalabteilung eines großen Pharma-Konzerns, in den mich natürlich mein Vater mit seinen Beziehungen gebracht hatte und mein Gehalt stieg von Jahr zu Jahr. Ich wollte dazugehören und war dennoch eine Fremde in dieser oberflächlichen Welt. Was wollte ich bloß? Meine Träume wiesen mir einen anderen Weg und doch war ich gefangen, gefangen in dieser Welt der Schickeria.
Eines Tages geschah etwas Außergewöhnliches in meiner allzu eintönigen, langjährigen Arbeitsroutine: Ein junges Mädchen hatte sich in unserem Unternehmen beworben und einen Termin zu einem Vorstellungsgespräch mit mir. Als sie den Raum meines Sekretariats betrat, in dem ich gerade einer Mitarbeiterin ein Schriftstück überreichte, trat eine unsägliche Stille ein. Wir betrachteten dieses schöne Mädchen, das wie transparentes Licht erschien, und erstarrten dabei unmittelbar in unserer geschäftigen Tätigkeit. Sie blickte mich mit ihren strahlend blauen Augen an und berührte in mir etwas, das mich erschauern ließ und mir Tränen in die Augen trieb. So standen wir da – der gesamte Raum war von einer Stille erfüllt, die mir in meinem bisherigen Leben zuvor noch niemals spürbar gewesen war. Langsam, beinahe in Zeitlupe bewegte ich mich auf sie zu, um sie zu begrüßen und zu fragen, ob sie denn Rosa Lassalle, die neue Bewerberin für die ausgeschriebene Stelle sei. Wir reichten einander die Hände und immer noch war ich sprachlos und zutiefst berührt, und hatte zugleich das Gefühl durch sie hindurchzugreifen. Hatte ich tatsächlich ihre Hände berührt? Ruhig nickte sie mit dem Kopf, ohne ein Wort zu sagen. Es war, als wäre ich „zu Hause“ angekommen, ein tiefes Gefühl, das ich in diesem Moment noch nicht wirklich erfassen konnte, ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Klarheit für das Wesentliche.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass sie gehörlos war und ich es vergessen hatte, eine Gebärdendolmetscherin zu unserem Gespräch zu bestellen. Somit war ich aufgefordert, es ohne Unterstützung zu führen – und es sollte mein Denken, in Folge sogar mein Leben verändern.
Als wir in meinem Büro Platz nahmen und uns erneut anblickten, war es als würden mir sämtliche Fragen unwesentlich erscheinen. Wir sahen uns eine Weile tief in die Augen und ich erfasste diesen Menschen in einer Ganzheit, wie es mir bisher noch niemals möglich gewesen war, einen Bewerber oder eine Bewerberin wahrzunehmen. Wir schienen uns wortlos zu unterhalten, mit wenigen Gesten und der Mimik unseres Gesichts. Rosa reichte ich einen Zettel, um ihr zu ermöglichen, meine Fragen zu beantworten, doch schon bald erkannte ich, dass ich auf all meine Fragen unmittelbare Antworten in meinem Innersten erhielt und diese vollkommen ihrem Geschriebenen glichen. Ich hörte nichts mehr um mich herum – keine Geräusche vom Verkehr, der sonst allzu laut vorbeizog, keinen Fluglärm, den die Landungen und Starts der Flugzeuge des Flughafens, in dessen Flugschneise wir lagen, verursachten, kein Radio, das ich schon automatisch jeden Morgen aufdrehte, wenn ich das Büro betrat und auch nicht die Gespräche meiner Mitarbeiterinnen im Vorzimmer. Ich hatte das Gefühl, mich mit dieser jungen Frau in einem Raum, den nur wir beide betreten hatten, zu befinden, ein Raum, in dem sich die Tore zu neuen Wahrnehmungen öffneten. Es war, als wäre ich „zu Hause“ angekommen, ein tiefes Gefühl, das ich in diesem Moment noch nicht wirklich erfassen konnte, ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Klarheit für das Wesentliche. Unser beinahe wortloses Gespräch berührte in mir etwas, das ich zuvor niemals wahrgenommen hatte. Ich wusste, dass sie diejenige sein würde, die mir ermöglichen kann, endlich das zu erforschen, wonach ich mich schon seit meiner Kindheit gesehnt hatte.
Obwohl diese Stelle nicht in meinem eigenen Team zu vergeben war, wurde es mir möglich gemacht, Rosa hier bei mir aufzunehmen, um sie für ihre Tätigkeit einzuschulen. Schon bald wurde mir bewusst, dass nicht sie von uns zu lernen hatte, sondern ich von ihr lernen durfte.
Sie wurde meine persönliche Assistentin und zeigte mir sehr bald auf, dass mich in meinem Leben tatsächlich noch etwas ganz anderes erwarten würde. Doch was?
Außerdem schien sich diese junge Frau immer wieder ins Nichts aufzulösen, nachdem wir uns begegnet waren…so als würde sie eigentlich nicht eine von uns sein. Wer war dieses Wesen, das mir immer mehr zeigte, wer ich eigentlich bin?
Noch machte mir der Gedanke an Veränderung Angst, aber schon bald wurde mir in all den wahrhaft stillen Momenten, die mir mit Rosa gegeben waren, klar, dass ich aufgefordert war, dem Ruf meines Herzens zu folgen. Wohin er mich führen würde, war mir zu dieser Zeit noch völlig unbekannt, doch wann immer ich in Rosas Augen blickte, wusste ich, dass es mich drängte, meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ohne weiter darüber nachzudenken – es war wie ein innerer Zwang – kündigte ich schon bald meine hochdotierte Stelle und beschloss, für ein Jahr auf Reisen zu gehen. Ich hatte noch einen Monat zu bleiben, um meine Nachfolgerin einzuschulen. In diesen Wochen verwandelte sich auch meine Beziehung zu Rosa in eine Freundschaft, in der ich so viel an Weisheit erfahren durfte, wie ich sie in meinen 33 Lebensjahren nicht einmal erahnen konnte. Sie war meine stille und gar sanfte Meisterin geworden, obwohl sie erst 20 Jahre war. Viele Abende saßen wir beisammen und redeten in einer Sprache, die nur mit dem Herzen gefühlt werden konnte, meditierten, was ich erst durch sie gelernt hatte oder schwiegen stundenlang, ohne wahrzunehmen, wie viel Zeit schon vergangen war. Nebenbei musste ich auch noch alles organisieren, um wirklich gut gehen zu können. Ich buchte einen Flug, der mich zuerst nach Indien bringen sollte, wo ich mich für vier Wochen in einem Ashram in den Bergen des Himalaya einbuchen ließ, um wirklich tief zu mir zu kommen. Von dort aus wollte ich mich von meiner Intuition weiterführen lassen. Für meine Wohnung fand ich binnen weniger Tage eine reizende Frau, die sie gerne für ein Jahr mieten wollte und sonst nahm ich bloß Kontakt zu den mir nahestehenden Menschen auf, von denen ich wusste, sie würden nicht versuchen, mich von meinem Weg zurückzuhalten.
Als wir an meinem letzten Arbeitstag ein Abschiedsfest in meiner Abteilung feierten, fiel mir auf, dass Rosa irgendwann nicht mehr da war und ich sie auch nirgendwo finden konnte. Ein wenig traurig betrat ich mein Büro, um die letzten Dinge und all meine Geschenke und Blumen zusammenzupacken, als mir ein goldenes Kuvert am Schreibtisch, das mit einem strahlenden Kristall mit besonderem Schliff beschwert war, auffiel. Während ich den Brief zu lesen begann, liefen mir Tränen über die Wangen, so sehr bewegten mich die Worte, die ich las – es war Rosas Abschiedsbrief, der folgendermaßen endete: „…Vertraue, geliebte Freundin, vertraue in jedem Moment deinem innersten Seelenkern, der dich leitet und der auch mich vor einem halben Jahr zu dir gerufen hat, um dich zum Erwachen zu bringen. Du hast noch Großes vor, du wunderbare Seelenschwester, mich suche bitte nicht auf Erden – so manches, was dir in deinem Leben erscheint, ist dir Wegweiser und zugleich ein Hauch des Vergänglichen. Ich werde immerdar bei dir sein. In tiefer Verbundenheit und Liebe, Rosa …“
Tatsächlich waren alle ihre Spuren verschwunden – ihr Personalakt wie aufgelöst – und als ich am nächsten Tag im Geburtenregister nachforschte, wurde mir klar, dass es keine Aufzeichnungen einer Rosa Lassalle gab. Wer war sie?
Nun sitze ich hier an diesem Abend des dritten Adventsonntags, alleine an einem einsamen Strand auf La Palma, nichts als Meeresrauschen und sanfte Geräusche der Natur um mich, als ich auf den Ozean blickend eine junge Frau sehe, die mir zuwinkt – es wird vollkommen still in meinem Innersten.
Langsam und dankbar erhebe ich mich und spaziere den Strand entlang … in mein Leben.